cap!

Demut Das Leben annehmen, ansprechbar für Gott bleiben: Warum Demut die Mutter aller Tugenden ist Vielfalt Wie ein Miteinander gelingen kann Achtsamkeit Drei Übungen für ein bewussteres Leben Das Leben annehmen, ansprechbar für Gott sein: Warum Demut die Mutter aller Tugenden ist WINTER 2023 DAS MAGAZIN DER KAPUZINER Abonnieren Sie cap! jetzt! kapuziner.org/magazin

02 FOTO: DIRK D. HTTPS://COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:BETHLEHEM_ _EINGANG_ZUR_GEBURTSKIRCHE.JPG , BETHLEHEM EINGANG ZUR GEBURTSKIRCHE“, HTTPS://CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY SA/3.0/LEGALCODE

03 ich darf Ihnen heute stolz cap! präsentieren, das neue Magazin der Kapuziner. Schön, dass Sie dabei sind, wenn wir uns in der ersten Ausgabe dem Thema Demut widmen. Eigentlich ein Widerspruch: Wir sind stolz, mit Ihnen über Demut zu reden. Schon diese ersten Worte im Heft zeigen, dass es um ein Thema geht, über das es nachzudenken lohnt. Nicht wenige Menschen müssen auf schmerzhafte Weise Demut lernen, erfahren sich gedemütigt. Wir glauben, dass es aus der Erfahrung des geistlichen Lebens Einsichten gibt, die Demut nicht als Verlust, sondern als Wert sehen lassen. Darüber wollen wir mit Ihnen ins Gespräch kommen (ab Seite 8). Wenn Sie uns schon länger begleiten, dann haben Sie bemerkt, dass wir uns internationaler aufgestellt haben. Mit Flandern, den Niederlanden und dem westlichen Teil Österreichs bildet Deutschland eine gemeinsame Provinz. Die Herausforderungen der Zeit sind nur im internationalen Miteinander zu meistern. Gleichzeitig konzentrieren wir uns. Nach schmerzhaften Abschieden setzen wir jetzt neue Akzente, etwa in Albanien, wo drei Brüder aktive Glaubens- und Lebenshilfe leisten (ab Seite 28). Liebe Leserinnen und Leser, Br. Helmut Rakowski Provinzialminister der Deutschen Kapuzinerprovinz Mit unserem Kloster im Netz auf kapuziner.org, unserer Präsenz in den sozialen Medien und mit diesem neuen Magazin wollen wir Kapuziner Sie in Zeiten von Klimakrise, Krieg und anderen Umbrüchen begleiten. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen aus der Spiritualität des heiligen Franziskus heraus nach Antworten suchen: authentisch, spirituell, konkret. Im Blick auf die Adventszeit und das Weihnachtsfest erinnere ich mich an die niedrige Tür, die in die Geburtskirche Christi in Bethlehem hineinführt. Um der „Demut Gottes“ in dem Kind in der Krippe zu begegnen, muss ich mich selbst beugen. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre! FOTO: KAPUZINER/LÊMRICH EDITORIAL _WINTER 2023

04 TITELTHEMA Rubriken 03 Editorial 06 News 31 Klosterküche 34 News und Nachrufe 39 Bildmeditation 43 Kontakte/Impressum 2023 14 FOTOS: KENZIE KRAFT/UNSPLASH œTITELž, KAPUZINER/LÊMRICH Inhalt Ausgabe WINTER 08 Mutter aller Tugenden Wie Demut zu einem gelingenden Leben beitragen kann 12 Interview Der Philosoph und Jesuit Godehard Brüntrup über den Weg zum Glück 14 Franz von Assisi Die Liebe im Fokus: Was ist die Quelle franziskanischer Demut? 16 Umfrage Wir haben Christinnen und Christen gefragt: Wann wirst Du demütig? _WINTER 2023

05 18 EINBLICK Der heilige Fidelis in Feldkirch 20 WAS TREIBT DICH AN? cap!-Interviewreihe Br. Moritz Huber aus Salzburg über Berufung und Gottesbeziehung 22 Vielfalt in Gemeinschaft Wie durch gemeinsame Werte ein Miteinander gelingen kann 26 ZWEI KÖPFE, ZWEI MEINUNGEN Dürfen wir noch Fleisch essen? 28 Albanien im Umbruch Abwanderung prägt das Leben der Bevölkerung Albaniens 32 KAPUZINER HELFEN Gemeinsam mit den Kapuzinern unterwegs: Wirksame Spenderinnen und Spender 36 Neustart in Salzburg Auf dem Kapuzinerberg in Salzburg ist in den letzten Monaten vieles in Bewegung gekommen 40 IMPULS & LEBEN Achtsamkeit schärfen Drei Übungen, um das Leben bewusster zu gestalten 42 STANDPUNKT Heilige sind out? Von wegen! Warum wir Vorbilder brauchen, sagt Br. Marinus Parzinger 20 22 Kloster im Netz Was wir tun, für welche Werte wir stehen und wie Sie mit uns in Kontakt kommen, finden Sie in unserem „Kloster im Netz“. kapuziner.org Monatlicher Newsletter Einmal im Monat schicken wir Ihnen ein Update per Mail: Was war im letzten Monat wichtig? Einfach kostenlos bestellen! kapuziner.org/newsletter Magazin cap! Das Magazin der Kapuziner erscheint dreimal im Jahr. Sie können sich cap! auch kostenlos nach Hause liefern lassen. kapuziner.org/magazin Helfen Sie uns helfen! Sie wollen die Kapuziner unterstützen? Alle Informationen und eine Online-Spendenmöglichkeit finden Sie auf unserer Website. kapuziner.org/spenden FOTOS: KAPUZINER/LEDERSBERGER, ISTOCK _WINTER 2023

06 In seinem apostolischen Schreiben „Laudate Deum“ („Lobt Gott“) fordert Papst Franziskus die Weltgemeinschaft auf, mehr gegen den Klimawandel zu unternehmen. Zwar hebt der Papst geplante Anstrengungen zu mehr Klimaschutz heraus, stellt aber auch fest: „Die getroffenen Vereinbarungen (erfuhren) nur ein geringes Maß an praktischer Umsetzung, weil keine geeigneten Mechanismen zur Kontrolle, zur periodischen Überprüfung und zur Bestrafung der Zuwiderhandlungen eingerichtet wurden.“ Für die Zukunft brauche es einen neuen Prozess: mit effizienten Maßnahmen, die verpflichtend sind und die auch überwacht werden. Der Papst wendet sich in „Laudate Deum“ auch explizit gegen diejenigen, die den menschengemachten Klimawandel leugnen. „In den vergangenen Jahren hat es nicht an Personen gefehlt, welche diese Beobachtung kleinreden wollten“, kritisiert der Papst. Er sieht sich zu dieser Klarstellung in „Laudate Deum“ gezwungen „aufgrund bestimmter abschätziger und wenig vernünftiger Meinungen (...), die ich selbst innerhalb der katholischen Kirche vorfinde.“ Papst Franziskus beschäftigt sich auch mit denjenigen, die als „sogenannte radikalisierte Gruppen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen“. Diese Gruppen füllten eine Lücke in der Gesellschaft, die nicht ausreichend Druck auf die Politik ausübe. Gerade der Westen müsse seinen „unverantwortlichen Lebensstil“ verändern, um wieder auf den „Weg der gegenseitigen Fürsorge“ zu kommen. Papst ruft zu mehr Klimaschutz auf Deutsche Kapuzinerprovinz Vier Länder, eine Provinz „Laudate Deum“ veröffentlicht D NL B vier Klöster, die in der gemeinsamen Provinz organisiert sind. Gewählter Provinzial für alle Brüder ist Br. Helmut Rakowski. Delegat der Delegation Tirol ist Br. Erich Geir, Delegat der Delegation Belgien/ Niederlande ist Br. Christophorus Goedereis. Der Name „Deutsche Kapuzinerprovinz“ trügt: In dieser Provinz sind seit 2023 Klöster des franziskanischen Ordens aus vier Ländern in Europa vereint. Hauptsitz der Provinz ist München. Die Deutsche Kapuzinerprovinz entstand vor einigen Jahren aus der Vereinigung zweier deutscher Provinzen. Die niederländischen Brüder gehören seit 2020 dazu, die belgischen Kapuziner seit 2023. Niederlande und Belgien sind in der „Delegation Belgien/Niederlande“ der Deutschen Kapuzinerprovinz organisiert. Auch vier österreichische Klöster sind seit 2022 als „Delegation Tirol“ wichtiger Teil der Gesamt-Provinz. Die übrigen Klöster in Österreich gehören zur Provinz Krakau. In Deutschland gibt es somit sieben, in Belgien drei, in den Niederlanden zwei und in Österreich A NEWS _WINTER 2023

07 Im italienischen Tortona absolvieren junge Kapuziner aus vielen europäischen Ländern ihr Noviziat. Der neue Jahrgang wurde vor einigen Wochen eingekleidet. Mit dabei: Br. Brian Thomas aus Deutschland. Der junge Mann hatte sich zuvor in Münster, Salzburg und Lendinara in der sogenannten Postulatszeit auf das Noviziat in Norditalien vorbereitet. Der deutsche Kapuziner Br. Harald Weber ist Teil des Ausbildungskonventes in Tortona. Mit dem internationalen Noviziat will der Orden es seinem Nachwuchs ermöglichen, mit einer größeren Anzahl von Mitbrüdern in der gleichen Ausbildungssituation zusammenzuleben und sich über gemeinsame Fragen auszutauschen. Am Ende des Noviziats steht für die Novizen die Entscheidung an, ob sie die zeitlichen Gelübde als Kapuziner ablegen wollen. Ausbildungsstart in Italien Noviziat in Tortona Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine helfen die Kapuziner der Deutschen Kapuzinerprovinz konkret vor Ort: Viele Hilfsgüter sind seitdem ins Land gebracht worden. Mehrfach waren Br. Moritz und Br. Jeremias in der Ukraine. Doch noch immer ist die Not groß. „Wir haben fast alles verteilt, der Bedarf ist riesig. Die Menschen in der Frontzone sind verarmt“: Dieser Hilferuf erreichte die Kapuzinerbrüder vor wenigen Wochen. „Wir wollen die Menschen unterstützen – sie brauchen uns!“, sagt Br. Moritz Huber. So können Sie helfen: Kontoinhaber: Deutsche Kapuzinerprovinz, IBAN: DE60 7509 0300 1002 2064 39, Verwendungszweck: Ukrainehilfe, Spendenbescheinigung: moritz.huber@kapuziner.org Engagement im Kriegsgebiet Ukraine-Hilfe geht weiter Franziskanische Jubiläen In den kommenden Jahren feiert die franziskanische Familie eine ganze Serie von Jubiläen. Während sich 2023 die Weihnachtsfeier in Greccio mit dem Krippenspiel zum 800. Male jährt, steht 2024 der Empfang der Stigmata und dann die Entstehung des Sonnengesangs des heiligen Franziskus an. Im November 2023 feierten die franziskanischen Gemeinschaften den Auftakt für diese Jubiläumsreihe in der Liebfrauenkirche der Kapuziner in Frankfurt. Ausstellung „San Francesco“ Mit einer Doppelausstellung widmet sich das Diözesanmuseum im bayerischen Freising bei München der Figur des heiligen Franziskus von Assisi und dem Werk der deutsch-amerikanischen Künstlerin Kiki Smith. Die Ausstellung versammelt herausragende Werke und hochkarätige Leihgaben vorrangig aus italienischen Museen zu einem der meistverehrten Heiligen der katholischen Kirche. Die Ausstellung läuft bis zum 7. Januar 2024. dimu-freising.de Weitere News, Interviews und Podcasts finden Sie auf kapuziner.org +++ Interview mit Br. Franz Beer zur Ikonenmalerei +++ Jahreswechsel in den Klöstern Salzburg und Frankfurt für junge Leute +++ Papstprediger und Kapuziner Raniero Cantalamessa über gute Predigten +++ Der Krippenbauer aus dem albanischen Lumbardh +++ 800 Jahre Wundmale des Franziskus +++ KURZ NOTIERT Eingekleidet Zum Noviziatsstart bekommen die Brüder ihr Ordensgewand Notlage Die Hilfe kommt an FOTOS: KAPUZINER _WINTER 2023

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09 TITELTHEMA Demut in diesem Sinne ist eine Haltung, die das Leben sieht, wie es ist; eine Haltung, die darum weiß, dass Leben Sterben-müssen bedeutet. Zudem hat mich nicht nur der Tod, sondern auch das Leben meines Freundes gelehrt, was Demut heißt: nämlich das Leben so zu nehmen, wie es ist, und es trotz aller Krankheit und Krisenzeiten zu genießen, es zu gestalten und mit Ho nung und Freude anzureichern. Er war ein sehr dankbarer Mensch, der mir sehr deutlich vor Augen geführt hat, dass im Leben nichts selbstverständlich ist. Umso mehr gilt es, dankbar zu sein für das, was mir das Leben schenkt. Dankbar sein für das Geschenk der Liebe und der Freundscha , in Gelassenheit dankbar sein für die Geschenke des Lebens – und mit einem Lächeln den Weg des Lebens gehen, bis zum Tod. Demütig hat er seinen Tod gestaltet – und so wollte er auch eine schlichte und einfache, eine bescheidene Beerdigung. Demut hat mit einem Maß an Bescheidenheit zu tun und bedeutet, das Geschenk des Lebens anzunehmen. Selbst-Akzeptanz, nicht Selbst-Überhebung Demut ist eine Haltung und eine Tugend, die hil , das Leben, das Sterben und den Tod zu gestalten. Demut, so sagte es der eologe Johannes Chrysostomus im vierten Jahrhundert nach Christus, ist die Mutter aller Tugenden. Sie nimmt das Leben in all seinen Facetten ernst, gestaltet es, weiß aber auch darum, dass vieles nur Stückwerk bleibt, dass der Mensch vieles nicht aus sich selbst heraus leisten kann, dass niemand vollkommen ist – und dass das Leben eben so ist, wie es ist. In der Benediktsregel, geschrieben im sechsten Jahrhundert nach Christus, nimmt die Demut einen großen Raum Demut Bin ich dankbar für das, was mir das Leben schenkt? Bin ich im Alltag und am Ende des Lebens bereit, loszulassen? Wie verhalte ich mich Gott gegenüber? Wie Demut zu einem gelingenden Leben beitragen kann. Seit längerem schon begleitet mich die Demut in meinen Kursen und Workshops zum ema „Leadership und Spiritualität“. Doch ich glaube, ich habe erst so richtig verstanden, was Demut existentiell meint, als ich in diesem Jahr meinen besten Freund in den Tod begleitet habe. Er ist bewusst gestorben, und noch am Tag vor seinem Tod hat er gelächelt. Er hat ihn geplant, seinen Tod. Auch wenn es sehr schmerzha war, so bin ich doch ungeheuer dankbar, diese Tage mit ihm erlebt zu haben. Mit einem Male habe ich gespürt, was Leben heißt: nämlich abgeben zu können, sich zu überlassen, den Tod zu akzeptieren, weil er zum Leben gehört. Ich kann ihn nicht bekämpfen, er wird mich einholen, hartnäckig, und einmal auch an meine Tür klopfen und mich fragen: Es ist so weit, bist Du bereit? Das zu erkennen und zu akzeptieren, so zu leben und so zu sterben, das hat für mich ganz viel mit Demut zu tun. Ich bin sterblich und damit endlich, wir alle sind es. Das Sterben und der Tod gehören zum Leben. Und so viele vor mir sind gestorben, so viele nach mir werden sterben. Ich reihe mich ein. Ich bin einer von Milliarden, ganz klein in meinem bescheidenen Universum. Das macht mich demütig. Eine jahrtausendealte Menschheitsgeschichte liegt bereits hinter uns. Entwicklungen und Fortschritt, und es wird weitergehen nach meinem Tod, ohne mich. Das Leben und Sterben annehmen Eine andere Erfahrung im Zusammenhang mit dem Sterben meines Freundes war die Erkenntnis, dass ich auch ihn gehen lassen muss. Ich musste loslassen. Demut hat mit Loslassen zu tun. 8 TEXT: BR. THOMAS DIENBERG > FOTO: KENZIE KRAFT/UNSPLASH _WINTER 2023

10 ein. Der heilige Benedikt sagt: „Die erste Stufe der Demut (ist): Der Mensch achte stets auf die Gottesfurcht und hüte sich, Gott je zu vergessen.“ Damit bringt er eine der Grundansichten christlich verstandener Demut zum Ausdruck: Die Demut ist eine Haltung Gott gegenüber. Ihn ehren und sich vor dem zu verneigen und abhängig zu wissen, der das Leben, die Welt und den Menschen in Liebe gescha en hat. Für Franz von Assisi zeigte sich die personi zierte Demut Gottes in der Menschwerdung seines Sohnes: klein und abhängig – und etwas Großes ist daraus entstanden. Damit verbunden ist ein Au rag. Nämlich zu den Kleinen und Schwachen zu gehen, zu denen, die Hilfe benötigen und sich selbst nicht helfen können, das Kleine und Schwache, das Niedrige wertzuschätzen, denn daraus kann Großes entstehen. Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, das Ego hintan zu stellen und mit den eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten gelassen umzugehen, sodass ich auch mit den Schwächen anderer gelassen umgehen kann: Wenn ich das anerkenne, dann gelingt es mir, der Stolperfalle der Selbstüberhebung und der Überforderung zu entgehen. Das ist gelebte Demut. Allerdings: Das hört sich leicht an, ist aber o so schwer umzusetzen. Mich akzeptieren, wie ich bin, auch mit dem, wo ich nicht gerne hinschaue, was mir wehtut oder wo ich mir wehtue und mich selbst nicht mehr verstehe – das ist eine Kunst, die es immer wieder von neuem einzuüben gilt. Das bedeutet auch, von großartigen Idealen und Bildern, die ich womöglich von mir selbst habe, zu lassen. Zu akzeptieren, dass ich so manches falsch mache, dass ich vieles nicht kann, dass ich in vielem von anderen abhängig bin. Aber das kann, ehrlich hingeschaut, auch ziemlich entlasten und befreien. Ich muss nicht alles selbst machen, ich kann es nicht. Ich kann und darf es lassen, anderen überlassen. Loslassen – im Sinne einer radikalen und schonungslosen Selbsterkenntnis. Bodenständig und maßvoll Die iroschottischen Mönche, denen der europäische Kontinent das Christentum zu verdanken hat, benutzten das lateinsche Wort „humilitas“ für Demut. Darin steckt das Wort „humus“: die Erde, der Boden. Auch das Wort „homo“ (Mensch) ist mit „humus“ verwandt. Darin drückt sich aus, dass ein demütiger Mensch ein bodenverha eter, ein bodenständiger Mensch ist, eben ein geerdeter Mensch. Demütig in diesem Sinne bedeutet, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen. Klug und maßvoll, tapfer, aber nicht tollkühn das Leben zu gestalten. Demut lässt mich auf die Welt und den Menschen, auf mich selbst schauen, wie ich bin: gescha en, geliebt, mit lässt mich auf die Welt und den Menschen, auf mich selbst schauen, wie ich bin: geschaffen, geliebt, mit Schwächen und vielen Fragen. Nicht vollkommen, endlich und sterblich, aber getragen von Gott. „Demut FOTOS: SUWAREE TANGBOVORNPICHET/ ISTOCK, ALEXANDER KAUFMANN/ UNSPLASH _WINTER 2023

11 TITELTHEMA als Mutter aller Tugenden hat die Kardinaltugenden Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und das Maßhalten mit im Boot.“ „Demut Schwächen und vielen Fragen. Nicht vollkommen, endlich und sterblich, aber getragen von Gott. Und das gilt es nicht zu vergessen. Das meint gottesfürchtig und demütig zu sein. Mut zum Dienen: Demut als Führungsprinzip? Die Demut spielt auch im Zusammenhang mit Leadership eine große Rolle. In dem Wort Demut stecken zwei Aspekte, die eine Leitlinie für eine gute und gelingende Leitung und Führung aufzeigen: Mut und Dienen - der Mut zum Dienen! Dienen bedeutet nicht, sich hintan oder alles und jeden auf eine Ebene zu stellen oder auf Leitung zu verzichten. Diese Frage steht im Mittelpunkt: Das, was ich jetzt tue, die Art und Weise, wie ich dieses Meeting gestalte oder jenen Veränderungsprozess angehe, wie ich die Gesamtstrategie für die Organisation plane oder die Mitarbeitenden ermutige, ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu entfalten – wem dient das? Dient es dem Einzelnen, dient es der Atmosphäre, dient es dem Gesamt? Wenn ich diese Frage beantworten kann, dann wird Führung gelingen und Erfolg haben. Denn sie stellt nicht die Leitung in den Mittelpunkt, sondern die Organisation mit den einzelnen Mitarbeitenden. Der Mut zum Dienen (statt Herrschen) zeigt sich in der Art, wie eine Führungskra den Mitarbeitenden begegnet. Das drückt sich nicht zwangsläu g in achen und agilen Strukturen aus. Diese müssen mit Haltungen gefüllt werden, und wenn diese fehlen, dann hil auch Agilität nicht. Demut als die Mutter aller Tugenden hat die Kardinaltugenden Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und das Maßhalten mit im Boot. Klug ist, wer zum Wohle und im Dienste des Ganzen handelt und entscheidet. Klug ist auch, wer weise Entscheidungen tri . Tapfer ist, wer anderen Menschen etwas zutraut und damit das Risiko des Vertrauens eingeht. Tapferkeit zeigt sich im Mut zum Dienen. Gerecht ist, wer den Einzelnen das zukommen lässt, was ihnen zusteht; nicht jedem das Gleiche, sondern jedem und jeder das seine und das ihre. Maßhalten in der Führung besteht darin, die Balance zu nden zwischen Nähe und Distanz, zwischen Partizipation, Delegation und Handlungsanweisungen. Maßhalten weiß die eigenen Gefühle einzuordnen und der eigenen Intuition zu vertrauen. Sich selbst in die Augen schauen Falsch verstandene Demut hingegen wertet sich selbst ab. Das hat nichts mit Demut zu tun, denn der Mensch ist so, wie er ist, von Gott geliebt und gescha en, und muss sich nicht im Vergleich mit anderen herabsetzen. Die Ablehnung seiner selbst ist die Ablehnung der Güte und Liebe Gottes. Die Letzten werden die Ersten sein (Lk 14,10f) bedeutet, sich nicht zu überschätzen, sich aber wertzuschätzen und zu wissen, wer ich bin. Ich kann in den Spiegel und mir in die Augen schauen. Für mich zeigt sich so immer wieder, dass Demut tatsächlich die Mutter aller Tugenden ist. Oder wie es in einem Wort der Wüstenväter aus dem vierten Jahrhundert nach Christus heißt: „Die Demut und die Furcht Gottes übertreffen alle Tugenden.“ _WINTER 2023

12 Professor Brüntrup, ist Demut der beste Weg zum Glück? omas von Aquin und andere Philosophen waren der Meinung, dass Demut die Mutter aller Tugenden ist. Und ich nde, da ist was dran. Es gibt gute Argumente dafür, dass ein tugendha es Leben zum Glück führt. Der wichtigste Aspekt ist: Die Demut schützt uns vor Selbstüberschätzung. Und diese Selbstüberschätzung würde dazu führen, dass man weniger lernt, dass man weniger gut in Beziehungen leben kann und dass man sich abkapselt. Die Demut führt also dazu, dass ich mir selber weniger wichtig bin und ich dadurch die Tür zu mir, zur Realität und zu anderen Personen ö nen kann. Das ist die Grundlage des inneren Wachstums. Demut ist kein sehr beliebter Begriff. Demut wurde o missbraucht. Da müssen wir uns als Kirche auch selbst auf die Brust schlagen. Viel zu o hieß es: „Du kommst nur zum Heil, wenn du dich geistlich verkrüppelst und nicht zu deinen innersten Anliegen stehst.“ Aber gerade das ist nicht Demut. Demut soll zum Wachstum führen, die inneren Hindernisse für mein Wachstum beseitigen. Viel zu o wurde der Begri , auch in der Kirche und in Ordensgemeinscha en, ausgenutzt, um Leute klein zu halten und zu disziplinieren. Was sollte Demut aus Ihrer Sicht sein? Es gibt verschiedene Aspekte. Ich beginne mal mit der intellektuellen Demut. Sie besteht in der philosophischen Einsicht des Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Nicht jeder, der zwei Artikel im Internet über Covid gelesen hat, sollte sich dann auf Facebook und YouTube als Experte zum ema ergießen. Solchen Leuten mangelt es an intellektueller Demut. Es geht also, positiv gesprochen, um eine realistische Selbsteinschätzung und darum, immer lernfähig zu sein! Ein zweiter Aspekt der Demut bezieht sich auf den Umgang mit anderen Menschen. Bin ich o en für Neues, oder habe ich vorgefasste Meinungen und die anderen können nur im Lichte dieser Meinung erscheinen? Was ist mit spiritueller Demut? Ja, auch das ist ein Teil des Begri es. Bei spiritueller Demut geht es vor allem darum, immer ansprechbar für Gott zu bleiben. Dinge, die einem ans Herz gewachsen sind, loslassen zu können. Nicht gebunden zu sein. In Ihrer Gottesbeziehung, welche Rolle spielt der Begriff da? Als Jesuit gesprochen würde ich sagen: Der Mensch ist dahin gescha en, durch seine Tätigkeiten Gott zu loben und zu ehren. Ich tue also die Dinge nicht, um als Wissenscha ler glänzend dazustehen. Sondern ich ordne mich ein in etwas, das größer ist als ich selbst. Das ist letztlich eben Gott selber, in dessen Schöpfungswerk ich mich einordne. Demut heißt, dass die Ausrichtung meines Lebens auf Gott hin ist und mein Leben seine Güte sichtbar macht. INTERVIEW: TOBIAS RAUSER Ist Demut eine Überlebensfrage der Menschheit? Was ist spirituelle, was intellektuelle Demut? Der Philosoph und Jesuit Godehard Brüntrup im Gespräch. „Demut ist Grundlage des inneren Wachstums“ _WINTER 2023

13 mehr als ich in meiner Vereinzelung. Das kann ein Musikstück sein, ein Bild. Die Kunst lässt uns staunen. Das ist demütig. Und natürlich machen mich Erfahrungen der Unverfügbarkeit demütig, die großen Lebensstationen wie Tod oder Geburt. Dass ich auf der Welt bin, ist nicht meine Leistung! Oder die Liebe: Ich kann ein noch so „toller Hecht“ sein, aber dass mich jemand wirklich liebt, dass kann ich nicht durch Leistung erzwingen. Echte Liebe macht demütig. Ist Demut für die Menschheit eine Überlebensfrage? Ja, das würde ich so sehen. Es geht darum: Wie gehen wir mit diesem Planeten um? Es gibt noch viele Generationen nach uns! Wir sind nicht nur der Natur verp ichtet, sondern auch den jetzt noch nicht lebenden Menschen. Sich hier zurückzunehmen, nicht so zu leben, als würde es kein Morgen geben, das ist ein Aspekt der Demut, der eine Überlebensfrage für die Menschheit ist. Geht es in der Demut auch um einen guten Blick auf mich selbst, um Wahrhaftigkeit? Ja, das ist ein wichtiger Aspekt. Das ist zum Beispiel auch ein Grund dafür, warum man zur Beichte gehen sollte, um einen wahrha igen Blick auf sich selbst zu bekommen. Aber Demut ist mehr als das: geistlich gesprochen geht es darum, dass ich in mir Platz mache. Platz mache für Christus. Wenn Sie auf unsere Gesellschaft blicken: Erschwert diese es, demütig zu leben? Es ist ungeheuer erschwert. Denn diese Zeit scheint erstmal das Gegenteil von Demut zu belohnen – etwa in den sozialen Medien. Wir belächeln alle den Narzissmus von Trump, aber im Ende ekt ist das, was er treibt, ja nur die Zuspitzung dessen, was wir alle in der Gesellscha denken und tun. Der Mangel an Demut äußert sich o darin, dass Menschen denken: Das, was ich bin und erreicht habe, das habe ich mir selbst erscha en. Statt zu erkennen, dass das Meiste uns geschenkt wird. Ist Demut also die Einsicht, dass ich Teil von etwas Größerem bin? Das ist gut formuliert: Teil von etwas Größerem, aber freiwillig und selbstbestimmt. Werden deshalb viele Menschen in der Natur demütig? Angesichts der Erhabenheit der Natur wird uns klar und einsichtig, dass wir eben nicht alles selbst erscha en, dass wir nur ein Teil des Universums sind. Hier muss ich mich nicht aufspielen. Jeder, der einmal in einem Boot auf dem Meer hin und her geschaukelt wurde oder im Sturm auf einem Berg stand, weiß, was ich meine. Was macht Sie demütig? Eine ganz große Erfahrung der Demut ist das Schöne. Ich spüre, dass das Schöne eine Dimension ist, die die Zeit überdauert. Sie ist Professor Dr. Godehard Brüntrup SJ wurde 1957 in Fulda geboren. Godehard Brüntrup ist ein deutscher Philosoph, Theologe und Jesuit. Der Wissenschaftler und Ordensmann ist Professor für Metaphysik sowie Philosophie der Sprache und des Geistes an der Hochschule für Philosophie in München. Zudem unterrichtet er an der St. Louis University in den USA. FOTO: HOCHSCHULE FÜR PHILOSOPHIE TITELTHEMA _WINTER 2023

14 FOTO: KAPUZINER/LÊMRICH Klein und zugleich wertvoll Was ist die Quelle franziskanischer Demut? Für Franz von Assisi war klar: Es geht darum, sich von der Anmaßung der eigenen Wichtigkeit zu befreien. Im Zentrum steht die Liebe: Sie schafft von Natur aus eine innere Bescheidenheit. Wo Geduld ist und Demut, da ist nicht Zorn noch Verwirrung.“ „ _WINTER 2023

Sommer 1204: Es war eine jener lauen Nächte, wie man sie in Mittelitalien kennt. Die Jugend von Assisi zog wieder einmal lärmend durch die Straßen. Man hatte gut gegessen und zu viel getrunken. Anführer der Truppe war Francesco Bernardone, Spross eines reichen Tuchhändlers. Ein Playboy, der sich extravagant kleidete, viel feierte und am Ende auch noch die Rechnung für alle beglich. Dass er an jenem Abend zurückblieb, fiel den anderen zunächst nicht auf. Als sie es merkten, fanden sie ihn ekstatisch entrückt, wie vom Blitz getro en. Die Chronisten sollten später berichten: „Plötzlich wurde er vom Herrn heimgesucht, und sein Herz wurde von solcher Freude erfüllt, dass er weder sprechen noch sich rühren konnte.“ Nach und nach entsagte jener Francesco Bernadone allem irdischen Reichtum, brach mit seiner Familie und zog in einer einfachen Kutte als Wanderprediger durch das Land. So wie einst Jesus von Nazareth. In Armut und Demut. Aus Francesco wird Franz von Assisi, und es gibt kaum eine andere Gestalt, mit der man die Tugend der Demut derart verbindet. Alle Geschöpfe betrachtete er als Schwestern und Brüder. Niemand solle sich über einen anderen Menschen erheben. Alle sind gleich, egal ob Papst, König oder Bettler. Denn alle sind Geschöpfe des einen Schöpfers. Nicht mehr und nicht weniger. Was hat es mit der franziskanischen Demut auf sich? Was ist die Quelle, aus der die Minderbrüder – so der ursprüngliche Name des Ordens – bis heute leben? Die folgende Geschichte lässt etwas über diese Quelle erahnen: „Eines Tages fragte ihn Bruder Matteo: „Warum gerade du? Warum rennen alle dir hinterher, und warum scheinen alle dich sehen und hören zu wollen?“ Franziskus antwortete: „Weil Gott unter den Sündern keinen größeren gefunden hat, um an ihm seine Barmherzigkeit zu erweisen“.“ Die Menschwerdung Gottes Die Demut des heiligen Franziskus ist weder ein Trick noch eine Er ndung. Sie hat ihre Wurzeln im christlichen Glauben und nährt sich aus einer zutiefst spirituellen Quelle. „Das, was der Mensch vor Gott ist, das ist er, nicht mehr und nicht weniger“, sagt Franziskus. Für ihn ist klar: Nur Gott selbst kommen Lob, Herrlichkeit und Ehre zu. Sowohl in der Bibel wie auch in den Schri en des Franziskus begegnet uns eine Demut, die zwei Perspektiven kennt. In der ersten wird sich der Mensch bewusst, wie klein und zugleich wie wertvoll er vor Gott ist. Noch viel wichtiger aber ist der zweite Blickwinkel: So sehr Franziskus sich im Angesicht Gottes seiner eigenen Schwachheit bewusst ist, fasziniert ihn die Demut, mit der Gott selbst sich o enbart. Weil Gott die Liebe ist, ist Gott auch die Demut. Wer liebt, macht sich abhängig. Und wer sich abhängig macht, wird demütig. Die Liebe scha von Natur aus eine innere Bescheidenheit, die ganz auf den anderen ausgerichtet ist. Franziskus erfährt dies in den christlichen Glaubensinhalten der Menschwerdung Gottes (Gott steigt herab und wird Mensch in Jesus von Nazareth) sowie im Tod Jesu am Kreuz (der menschgewordene Gott gibt in Liebe und Ohnmacht sein Leben hin). Diese christlichen Glaubensinhalte werden für Franziskus hier auf Erden nirgendwo so sichtbar wie in der Feier der Eucharistie. Vor der schlichten Gestalt des Brotes auf dem Altar fällt Franziskus in das Gebet: „O erhabene Demut! O demütige Erhabenheit, dass Gott sich zu unserem Heil unter der anspruchslosen Gestalt des Brotes verbirgt! Seht, Brüder und Schwestern, die Demut Gottes! Behaltet darum nichts von euch für euch zurück, damit euch als Ganze aufnehme, der sich euch ganz hingibt.“ Mit diesen Worten bringt es der Heilige auf den Punkt: Die Quelle aller menschlichen Demut liegt in Größe und Erhabenheit, aber auch in der Liebe und Demut des Schöpfers selbst. Das ist die eigentliche Quelle der franziskanischen Demut. Mit Demut an Größe gewinnen Wir entdecken hier etwas Wichtiges: Demut besteht nicht darin, sich geringer als die anderen zu fühlen, sondern sich von der Anmaßung der eigenen Wichtigkeit zu befreien. Christliche Demut ist frei von jeglichem Minderwertigkeitskomplex, aber auch von jeglichem Größenwahn. Vielmehr gilt: Wer Demut beweist, der gewinnt an Größe. Die biblische Quelle für dieses Verständnis findet sich im Hymnus des Philipperbriefes im Neuen Testament: „Jesus war wie Gott, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde den Menschen gleich.“ Im Jahr 1999 wurde der heilige Franziskus vom New York Times Magazine zum „Mann des Jahrtausends“ gekürt. Würden wir alle ein bisschen mehr wie er, wäre die Menschheit einen Schritt weiter. TEXT: BR. CHRISTOPHORUS GOEDEREIS 15 TITELTHEMA _WINTER 2023

16 Mit der Demut ist es oft nicht so einfach. Auch in der Bibel wird diese Tugend oft thematisiert, etwa im Epheserbrief: „Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe." cap! hat nachgefragt: Wann wirst Du demütig? „ Bei Demut merke ich, dass diese für mich gar nicht in sich alleine steht, sondern mit Dankbarkeit eng zusammen gehört. In der Verbindung werde ich demütig besonders im Blick auf meine Familie und das Geschenk des Lebens.“ Sr. Clara Delbrügge Franziskanerin von Reute, Ulm „ Demütig werde ich beim staunend-dankbaren Gewahrwerden der Dinge, die mir von Gott geschenkt wurden. Es sind zudem Krisen, die zeigen, dass ich nicht alles aus eigener Kraft schaffen kann – aber auch nicht muss, denn ich bin getragen von Gott.“ Johanna Beck Autorin & Literaturwissenschaftlerin, Stuttgart „ Demütig macht mich, wenn ich Gottes großartige Schöpfung und die Menschen in ihrer Verschiedenheit als Gottes Abbild bestaune. Demütig bin ich, wenn ich mich in meiner Gott gewollten Begrenztheit bejahe.“ Br. Engelbert Bacher Kapuziner, Feldkirch UMFRAGE: TOBIAS RAUSER ? Wann wirst Du demütig? _WINTER 2023

17 „ Wenn ich mir wie der heilige Franziskus vor 800 Jahren unter die Haut gehen lasse, wie bescheiden, verletzlich, ohnmächtig und hilflos Gott in Jesus Mensch wurde. Diese Demut Gottes berührt mich immer wieder neu.“ Br. Laurentius Wenk Kapuziner, Münster „ Ich bin gut darin, mich um mich selbst zu drehen. Wenn ich durch Gebet oder auch eine Begegnung, eine Nachricht, herausgerissen werde und sehe, wie gut ich es habe und wie klein mein Leben im Großen ist, werde ich auf gute Art demütig.“ Josephine Teske Pastorin & Ratsmitglied der EKD, Hamburg „ Demütig werde ich vor Geheimnissen des Lebens: Geburt, Krankheit, Tod. Vor Naturschönheit und herausragenden Kulturleistungen. Im Gewahrwerden eigener früherer Irrtümer. Vor der Liebestat Jesu am Kreuz oder Maximilian Kolbes im KZ.“ Andreas Püttmann Politikwissenschaftler & Publizist, Bonn „ Demut erinnert mich zuerst an das althochdeutsche „Dienmut“. Was gibt mir Mut zu dienen? Es sind immer wieder stille Momente, die mich ermutigen, mich von Hochmut zu lösen und mich mit Freude vom konkreten Leben in den Dienst nehmen zu lassen.“ Elisabeth Berger Exerzitienbegleiterin, Irdning TITELTHEMA _WINTER 2023

18 Dem Tod ins Auge schauen Die Kapuziner haben sich in ihrer Spiritualität bewusst der Endlichkeit gestellt. Die Gruftanlagen in Rom, Palermo und Brünn, aber auch die Kaisergruft in Wien geben davon Zeugnis. In der Kapuzinergruft in Rom heißt es: „Was ihr seid, waren wir. Was wir sind, werdet ihr sein!“ Der Blick auf die Vergänglichkeit schärft den Blick auf das Ewige und damit auch auf das Jetzt. In Feldkirch blickt der heilige Fidelis von Sigmaringen dem Betrachter leicht verhüllt ins Auge. Was sehe ich dadurch neu? kapuziner.org/heiligerfidelis FOTO: C. BERGER

19 EINBLICK

20 „Ich bin glücklich.“ Wann haben Sie das zum letzten Mal gedacht? Das Wetter war schön, ich war spazieren in Salzburg, eine sehr schöne Stadt. Schönheit und Glück passen gut zueinander. Wann waren Sie zuletzt unglücklich? Ich nde es schwierig, das zu beantworten. Wenn man traurig ist, zweifelt oder hadert: dann muss man ja nicht gleich unglücklich sein. Natürlich habe ich auch schlechte Tage. Unglück und Glück sind aber weite Felder und ich persönlich unterscheide eher zwischen Glück und Zufriedenheit. Wichtig ist, dass man zufrieden ist. Was ist Zufriedenheit? Zufrieden ist der, der wenig braucht. Nicht der, der viel hat. Mir geht es darum, zufrieden zu sein, denn ich will mit dem, was ich habe, gut und in Frieden leben können. Es geht mir nicht um Erlebnisse oder Hochgefühle, ich brauche das nicht. Für mich geht es darum, auf dem Boden zu stehen und in Frieden zu sein. Das Leben anzunehmen, so wie es ist. Wie erreicht man „in Frieden sein“? Da gibt es keinen Plan und kein Projekt. Was für mich auf jeden Fall dazugehört, das sind Verzicht und Genügsamkeit. Wenn man immer daran denkt, was jetzt noch besser wäre, dann wird es nichts mit der Zufriedenheit. Wie haben Sie das gelernt? Das ist ein ema, das mich mein ganzes Leben begleitet. Auch ich verliere es immer wieder aus dem Blick, aber gerade in der christlichen Dimension merke ich immer wieder, was Erlösung eigentlich bedeutet. Wenn ich mir bewusst bin, dass ich von Gott angenommen, geliebt und erlöst bin, dann lebe ich ganz anders. Dann kann ich zufrieden sein. Das Einlassen auf das Leben, es annehmen, wie es ist, das ist der Schlüssel. INTERVIEW: TOBIAS RAUSER FOTO: KAPUZINER/LEDERSBERGER Unsere neue cap!-Serie „Was treibt Dich an?“ geht der Frage nach, was der Treibstoff für ein gutes Leben ist. Den Anfang macht Br. Moritz Huber, Kapuziner in Salzburg. „Die Tiefe im Leben finden“ WAS TREIBT DICH AN? _WINTER 2023

21 Jeden Abend haben wir uns kurz in eine Kirche gesetzt und danke gesagt. Danke für die Menschen, die uns so freundlich aufgenommen haben. Der Weg war das Ziel. Nach der Reise ging es wieder in den alten Job. Ja. Und ich war dort eigentlich auch glücklich. Nur ganz zufrieden war ich nie. Mir ging es gut im Bayerischen Wald, und ohne diese Ausgangsposition wäre ich auch heute nicht hier im Kloster. So wurde mir klar, dass etwas fehlte – obwohl ich alles hatte. Eine Sehnsucht? Ich kann und möchte das gar nicht beschreiben, denn jeder Mensch muss selber seinen Erfahrungen Raum geben. Ich kann nur sagen: Etwas hat in meinem Herzen Raum gefunden. Und das treibt mich heute an. Wo begegnet Ihnen Gott? Mein Glaube ist eine Perspektive auf das Leben. In diesem Glauben nde ich Gott. Nicht im Wald, in der Stille oder im Gebet. Ich nde Gott in dem, was mir als Leben entgegenkommt. Für mich tragen auch die klassischen Systeme, wo alles gut strukturiert ist, nicht. Viele dieser Systeme sind brüchig und es gibt kein Modell, dass das für jeden festlegen kann. Was ist der Treibstoff für Ihre Gottesbeziehung? Ich bin überzeugt, dass das Leben Tiefe hat. Dieser Tiefe will ich nachgehen, das Leben erkennen und gut leben. Ich habe es nicht so mit Bibelzitaten, aber es gibt ein Wort, das mir wichtig ist: „Wohin sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens“. So geht’s mir, in meinem Glauben nde ich die Tiefe im Leben. Br. Moritz Huber wurde 1995 im bayerischen Friedberg geboren. Der gelernte Brauer trat 2020 in den Kapuzinerorden ein und legte 2021 seine zeitlich befristeten Gelübde ab. Zurzeit lebt der junge Ordensmann im Kapuzinerkloster in Salzburg und studiert Theologie. Br. Moritz kümmert sich auch um die Ukraine-Hilfe des Ordens und bietet Einführungen in Kontemplation und Stille an. Wie sieht es zurzeit in Ihrem Leben aus? Ich bin in einer Phase, in der ich zufrieden bin, das kann ich schon sagen. Dennoch hadere und zweifele ich auch, vor allem, wenn es um die Frage geht: Wo stehen wir denn in der Gesellscha , in der Kirche und im Orden? Es braucht auch Veränderung und konkrete Ziele, um zufrieden zu sein. Ich kann mich nicht einfach hinsetzen und sagen: passt doch alles! Wann kamen bei Ihnen erste Fragen nach der Berufung auf? Das war auf dem Gymnasium, auf dem Weg zum Abitur. Schule ist mir immer sehr leichtgefallen. Dennoch war ich mit dem Bildungssystem, das jede Individualität im Keim erstickt, sehr unzufrieden. Ich dachte: Was soll ich denn mit den guten Noten, dem Abi? Was will ich? Das war eine schwere Lebensphase und ich bin viel in die Stille gegangen. Mir wurde klar: Mein Leben braucht eine Ausrichtung. Sie sind Brauer geworden. Ich wollte auf keinen Fall studieren, dieses verzweckte Lernen war nichts für mich. Ich wollte leben und im Leben stehen. Eine Einfachheit mit einem normalen Ausbildungsberuf und Menschen um mich herum, die ich mag und die mich mögen. Der Beruf passt zu mir, es war die richtige Entscheidung. Ich habe als Brauer gearbeitet, und war später auch für die Flüchtlingsversorgung in meinem Landkreis zuständig. Eine wichtige Rolle bei ihrer Entscheidung fürs Kapuziner-Sein spielte eine Wanderung nach Rom. Ich bin mit einem Freund von Innsbruck nach Rom gelaufen, ein sehr prägendes Erlebnis. Wir kamen an Assisi vorbei, Spiritualität war Teil des Weges. Den heiligen Franziskus fand ich authentisch. Das war kein Berufungserlebnis, aber es ist hängengeblieben. Das komplette Gespräch finden Sie auf kapuziner.org _WINTER 2023

22 IN GEMEINSCHAFT Vielfalt ist gefährdet, wertvoll und fordert heraus. Im Land, in der Stadt, aber auch in einer kleineren Gemeinschaft in einem Kloster. Ein Blick nach Frankfurt, wo durch Kommunikation und gemeinsame Werte das Miteinander gelingt. VIELFALT _WINTER 2023

23 Im naturkundlichen Museum Senckenberg in Frankfurt gibt es eine riesige Halle. Sie ist voll mit ausgestop en Vögeln. Vom kleinen Kolibri bis zum großen Vogelstrauß, vom unau älligen grauen Heckenvogel bis zu den schillerndsten Tropenvögeln gibt es eine Menge zu sehen. Und es ist nur ein Bruchteil, der hier ausgestellt ist. Die ganze Vogelwelt umfasst weltweit um die 10.000 Arten. Dafür ist sogar der Saal im Senckenbergmuseum zu klein. Diese riesige Vielfalt ist allerdings bedroht: Die MaxPlanck-Gesellscha dokumentiert den rapiden Artenrückgang in Deutschland. Über die Häl e der 249 ständig brütenden Arten sind bedroht. 14 Arten sind bereits ausgestorben und weitere sechs werden in den nächsten Jahren nicht mehr zu nden sein. Ähnlich sieht es bei P anzen aus. Schlechter sogar bei Insekten: Ihre Biomasse hat um unglaubliche 80 Prozent in den letzten 25 Jahren abgenommen. Die Diversität, also die Vielfalt, nimmt in der Natur rapide ab. Doch auch in der Nutztier- und Nutzp anzenwelt sieht es nicht anders aus. Nicht umsonst gibt es die Gesellscha zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen. Oder kennen Sie das Limburger Rind? Das deutsche Karakulschaf oder den Bergischen Kräher, eine Hühnerrasse? Vielfalt auf dem Rückzug? Schauen wir ins Müsliregal, könnte man auf die Idee kommen, dass es eine nie dagewesene Vielfalt und Variantenbreite gibt. Doch schaut man auf die Zutaten, stellt man fest: Es ist eigentlich immer dasselbe drin. Denn auch bei den Nutzp anzen geht der Bestand angebauter Sorten zurück. In Köln gibt es die Gesellscha für bedrohte Sprachen der Universität Köln. Ihre Voraussage: Ein Drittel der circa 6500 gesprochenen Sprachen wird in den nächsten Jahrzehnten aussterben. Damit werden Wege zum Weltverständnis und der Kultur verschwinden. Von diesem Blickwinkel aus müsste man sagen: Es ist nicht so weit her mit der Vielfalt. Es verschwinden überall Tier- und P anzenarten. Die Sorten angebauter Gemüse und Getreide schrumpfen zusammen auf ein paar wenige von großen Firmen ausgesuchte Arten. Trotz vieler Kommunikationsmöglichkeiten verschwinden Sprachen und Kulturen, in denen so verschieden und vielfältig gedacht und gesprochen werden kann. Was ist mit der Vielfalt, der Diversität und der Variation? Die Welt ist doch eigentlich nicht so einheitlich. Vielfalt ist wertvoll. Die Straßen unserer Städte sind bunt. Durch die 8 TEXT: BR. JENS KUSENBERG Menschen aus verschiedenen Kulturen, die das Leben bereichern. Es gibt indisches Essen, chinesische Küche und peruanische Getränke. Diversität fügt sich zu einem Miteinander In Frankfurt ist es tatsächlich so. Nach der letzten Frankfurter Statistik liegt der Anteil der ausländischen Bevölkerung bei 31,5 Prozent. Von überallher kommen die Menschen, von allen Kontinenten. Bei einer so großen Vielfalt und Verschiedenheit ist es sehr ruhig und friedlich. Entgegen aller Unkenrufe aus bestimmten Richtungen kommt es in Frankfurt nicht zu „Rassenunruhen“ oder Kämpfen zwischen rivalisierenden Gruppen. Nein, die so ganz verschiedenen Menschen leben ihr Leben neben- und miteinander. Ja, sicherlich ist das nicht das Paradies auf Erden. Es gibt auch in Frankfurt Probleme mit Kriminalität, Armut und Ausgrenzung. Aber dafür ist nicht die Vielfalt erstursächlich. Peter Reulein, Bezirkskantor des Bistums Limburg und geborener Frankfurter, meint: „Frankfurt hatte schon ab den 60er Jahren einen großen Zuzug von „Gastarbeitern“, wie man das damals nannte. Überwiegend kamen die Menschen aus der Türkei, Italien, Griechenland und Spanien. Die Internationalität ist durch den Flughafen, Internationales Frankfurt Im guten Miteinander Heterogenität wertschätzen FOTOS: ISTOCK, KAPUZINER/ZARATÉ > _WINTER 2023

24 und innere Verlorenheit spiegeln“, sagt der Kapuziner Bernd Kober, der seit 2021 für die Seelsorge in Liebfrauen hauptverantwortlich ist. „In unzähligen Einzelgesprächen erfahre ich die Vielgestalt menschlichen Lebens und Ringens. Und ich darf hier an diesem Ort das Wort zusprechen, das jedem Menschen in jeder Lebenssituation zugesagt ist: Fürchte dich nicht! Das ist manches Mal leicht, manches Mal schwer. Wir Kapuziner versuchen an diesem Ort, Menschen aufzurichten, Ho nung zu sti en, Wege zu suchen und zu zeigen.“ Diese Vielfalt in der Liebfrauenkirche ist gewollt, musste aber über die Jahrzehnte erarbeitet werden. Man kann viel von O enheit sprechen und betonen, dass jeder willkommen ist. Aber ob das dann eine wirkliche Einstellung zu denen ist, die kommen, ist etwas anderes. Viele Brüder Kapuziner und viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und nicht zuletzt viele ehrenamtliche Helfer und Helferinnen haben ihre Arbeit diesem Ziel verschrieben: Liebfrauen ist ein Ort der Vielfalt. Es drückt sich in der gelebten Integration und Annahme der Menschen aus, die hierherkommen. Sie nden immer jemandem, ob an der Klosterpforte, im Beichtstuhl der Kirche, im Innenhof des Klosters oder in den Räumen der Franziskustre -Sti ung, einem Werk, das der verstorbene Bruder Wendelin Gerigk gründete, und das unter anderem ein Frühstücksangebot für sozial benachteiligte Menschen und eine Sozialberatung anbietet. Br. Bernd beschreibt das Leben in Liebfrauen so: „Liebfrauen ist ein Ort friedlicher Integration: der Glaube scha Verbindung und Gemeinscha . Schon innerkirchlich ist dieser Friede eine gefährdete Sache. Nur respektvolle Kommudas Tor zur Welt, gegeben. Und auch durch die zentrale Lage in Deutschland sehr gewachsen. Da es in Frankfurt und im umliegenden Rhein-Main-Gebiet viele Arbeitsplätze gibt, sind relativ wenig soziale Spannungen zu spüren. Die Diversität fügt sich eigentlich zu einem guten Miteinander.“ Ein Blick in die Liebfrauenkirche, mitten in Frankfurt: Von morgens 6.30 Uhr bis abends um 21.00 Uhr kommen und gehen Menschen. Junge und Alte. Banker, Managerinnen, Hausfrauen und Obdachlose sitzen nebeneinander. In den Gottesdiensten ndet man Menschen aus Asien wie zum Beispiel von den Philippinen oder aus Korea, aus Arabien, Syrien, Indien. Ebenso Menschen aus allen Teilen Europas, vom Norden in Schottland bis in den Süden aus Kroatien. Es kommen Menschen aus Südamerika und Kanada und anderswoher. Es sind katholische Leute mit konservativen Ansichten, ebenso welche, die liberale Meinungen vertreten. Jedem gilt das Wort: Fürchte dich nicht! Die Liebfrauenkirche und ihre Gemeinde haben große Integrationskra . Viele fühlen sich hier beheimatet, gesehen und angenommen. Ihre Sicht auf die Welt, auf den Glauben und auf ihr Leben darf hier bestehen. Ohne von jemandem bewertet zu werden. Niemand erhebt den Zeige nger oder verurteilt jemanden, weil er oder sie so ist wie er oder sie ist. „Liebfrauen liegt mitten in Frankfurt, einer schillernden Stadt, in deren Hochglanzfassaden sich die Schönheit des Menschen, aber auch dessen Abgründigkeit, Not, Schuld Im Herzen Frankfurts Kirche, Kloster und Franziskustreff Willkommenskultur Liebfrauen will ein Ort der Vielfalt sein FOTOS: KAPUZINER /LÊMRICH _WINTER 2023

25 nikation, Veränderungsbereitscha und das Vertrauen auf den einen Gott in Gebet und gemeinsamer liturgischer Feier kann diesen Frieden bewahren und fördern.“ Kommunikation als Voraussetzung Am Mittwochmorgen sitzen die Kapuziner von Frankfurt wie immer um den großen ovalen Tisch im Kloster. Es ist Konventsvormittag. Die Brüder sprechen miteinander: Wie geht es mir? Was liegt in den nächsten Tagen an? Ist mir etwas aufgefallen, über das ich mit den Brüdern sprechen möchte? Was läu gut? Was muss meiner Meinung nach geändert werden? Dieser Aufwand, den die Brüder betreiben, dient vor allem einem: der Kommunikation. Miteinander reden, über dies und das und das Notwendige besprechen, das schweißt die Gemeinscha zusammen. Die so unterschiedlichen Brüder, mit verschiedener Herkun aus Indien und Deutschland, mit verschiedener Bildung und unterschiedlichen Berufen, Wünschen und Sehnsüchten, eint diese Kommunikation. „Ich habe mich für ein Gemeinscha sleben entschieden als Kapuziner. Auch wenn auf der Packung Kapuziner draufsteht, ist da sehr viel Unterschiedliches und manchmal Gegenläu ges drin enthalten. Das ist anstrengend, braucht viel Kommunikation, Wertschätzung und katholische Weite“, bringt Br. Bernd diese Vielfalt mit ihren Vor- und Nachteilen auf den Punkt. Und noch eines lässt die Brüder Schwierigkeiten, Hindernisse und Hürden weniger wichtig nehmen. Alle sind sie um eines versammelt: das Geheimnis des Lebens, das sie Gott nennen. Als Männer, die nach den Idealen des heiligen Franziskus leben wollen, bedroht sie Vielfalt nicht. Sie sind als vielfältige Gemeinscha unterwegs und wissen, dass jeder auch seine Fehler hat, aber dass das nicht die Hauptsache ist. Sondern vielmehr die Sehnsucht nach Annahme. Jeder hat an irgendeinem Punkt des Lebens gespürt: Es gibt etwas über mir, das mich suchen lässt. Das ist die gemeinsame Grundlage, bei aller Unterschiedlichkeit. Das lässt die Brüder über sich selbst hinausgehen, ohne dass sie das Zentrum vergessen wollen. Diese gemeinsamen Werte und Ziele bringen die Brüder zusammen. Und die Vielfalt der Gemeinscha lässt sie besser diese Werte und Ziele leben. Auch mit den vielen Menschen, die tagtäglich nach Liebfrauen kommen, hier beten, kurz hereinschauen oder hier arbeiten. Viele Vögel gibt es im Senckenberg-Museum. Kleine Graue und große Bunte. Aus Skandinavien und aus den Tropen. Vielfalt umgibt uns und ist schön. Vielfalt ist aber auch herausfordernd. Manchmal ist das schwierig. Manchmal ganz leicht. Für die Brüder in Frankfurt, in einer vielgestaltigen Gemeinscha und Kirche, in einer quirligen und internationalen Stadt, ist das eine bereichernde Aufgabe. Es gibt nicht nur im Naturkundemuseum viele unterschiedliche Vögel, sondern auch in Frankfurt selbst. Und die Kapuziner sind mittendrin. Augenhöhe Unvoreingenommen den Dialog suchen Gemeinsame Grundlage Die Suche nach Gott Der Glaube schafft Verbindung und Gemeinschaft.“ Br. Bernd Kober „ _WINTER 2023

26 ZWEI KÖPFE ZWEI MEINUNGEN DÜRFEN WIR ... ... NOCH FLEISCH ESSEN? Ja, wir dürfen noch Fleisch essen. Der Konsum war früher etwas Besonderes. Es ist an der Zeit, dass er es auch für uns wieder wird.“ Br. Christian Albert „ Die Frage nach dem Fleischkonsum stellen wir uns seit einigen Jahren zunehmend. Und das zurecht - vor allem mit Blick auf die Klimakrise und die unwürdigen Zustände in der Massentierhaltung. Und trotzdem sage ich: Ja, wir dürfen Fleisch essen! Die Menschen haben zu allen Zeiten Fleisch gegessen. Auch Jesus hat Fleisch gegessen. Zu wichtigen Anlässen wurde ein besonders wertvolles Tier geschlachtet. Fleisch wurde früher allerdings nicht so häu g konsumiert, wie wir es heute tun. Der Konsum war etwas Besonderes. Es ist an der Zeit, dass er es auch für uns wieder wird. Fleischessen ist eine Entscheidung und eine Verantwortung. Besonders als Christen sollten wir Respekt vor dem Leben und dem Tod des Tieres haben. Ich kenne einen Metzger, der seine Mitarbeiter immer wieder daran erinnert, dass jeder Muskel, jede Sehne, jedes Stück einmal Leben war. Ich bin kein Freund davon, Fleisch möglichst billig zu kaufen, nur damit jeden Tag neben Karotten und Karto eln auch ein Stück Schwein auf dem Teller liegt. Zur Verantwortung gehört ein bewusstes Einkaufen. Am besten regional, aus kleinen Betrieben und ohne lange Transportwege. Ja, das ist natürlich viel teurer und bedeutet womöglich, dass es nicht jeden Tag Fleisch geben kann. Fleisch sollte nichts Alltägliches sein, sondern etwas Wertvolles. Und mal ganz im Ernst: ein gut abgehangenes Stück Fleisch aus der Metzgerei um die Ecke schmeckt doch auch viel besser als ein abgepacktes von einer Supermarktkette. 8 FOTO: KAPUZINER/LÊMRICH, PRIVAT Br. Christian Albert KAPUZINER, ALBANIEN Der Ordensmann (geboren 1986) lebt in Fushë-Arrëz in Albanien. Dort arbeitet er in sozialen und pastoralen Projekten. Als gelernter Koch gehört auch das Schlachten von Tieren aus der eigenen kleinen Landwirtschaft vor Ort zu seinen Aufgaben. _WINTER 2023

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