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Sommer 1204: Es war eine jener lauen Nächte, wie man sie in Mittelitalien kennt. Die Jugend von Assisi zog wieder einmal lärmend durch die Straßen. Man hatte gut gegessen und zu viel getrunken. Anführer der Truppe war Francesco Bernardone, Spross eines reichen Tuchhändlers. Ein Playboy, der sich extravagant kleidete, viel feierte und am Ende auch noch die Rechnung für alle beglich. Dass er an jenem Abend zurückblieb, fiel den anderen zunächst nicht auf. Als sie es merkten, fanden sie ihn ekstatisch entrückt, wie vom Blitz getro en. Die Chronisten sollten später berichten: „Plötzlich wurde er vom Herrn heimgesucht, und sein Herz wurde von solcher Freude erfüllt, dass er weder sprechen noch sich rühren konnte.“ Nach und nach entsagte jener Francesco Bernadone allem irdischen Reichtum, brach mit seiner Familie und zog in einer einfachen Kutte als Wanderprediger durch das Land. So wie einst Jesus von Nazareth. In Armut und Demut. Aus Francesco wird Franz von Assisi, und es gibt kaum eine andere Gestalt, mit der man die Tugend der Demut derart verbindet. Alle Geschöpfe betrachtete er als Schwestern und Brüder. Niemand solle sich über einen anderen Menschen erheben. Alle sind gleich, egal ob Papst, König oder Bettler. Denn alle sind Geschöpfe des einen Schöpfers. Nicht mehr und nicht weniger. Was hat es mit der franziskanischen Demut auf sich? Was ist die Quelle, aus der die Minderbrüder – so der ursprüngliche Name des Ordens – bis heute leben? Die folgende Geschichte lässt etwas über diese Quelle erahnen: „Eines Tages fragte ihn Bruder Matteo: „Warum gerade du? Warum rennen alle dir hinterher, und warum scheinen alle dich sehen und hören zu wollen?“ Franziskus antwortete: „Weil Gott unter den Sündern keinen größeren gefunden hat, um an ihm seine Barmherzigkeit zu erweisen“.“ Die Menschwerdung Gottes Die Demut des heiligen Franziskus ist weder ein Trick noch eine Er ndung. Sie hat ihre Wurzeln im christlichen Glauben und nährt sich aus einer zutiefst spirituellen Quelle. „Das, was der Mensch vor Gott ist, das ist er, nicht mehr und nicht weniger“, sagt Franziskus. Für ihn ist klar: Nur Gott selbst kommen Lob, Herrlichkeit und Ehre zu. Sowohl in der Bibel wie auch in den Schri en des Franziskus begegnet uns eine Demut, die zwei Perspektiven kennt. In der ersten wird sich der Mensch bewusst, wie klein und zugleich wie wertvoll er vor Gott ist. Noch viel wichtiger aber ist der zweite Blickwinkel: So sehr Franziskus sich im Angesicht Gottes seiner eigenen Schwachheit bewusst ist, fasziniert ihn die Demut, mit der Gott selbst sich o enbart. Weil Gott die Liebe ist, ist Gott auch die Demut. Wer liebt, macht sich abhängig. Und wer sich abhängig macht, wird demütig. Die Liebe scha von Natur aus eine innere Bescheidenheit, die ganz auf den anderen ausgerichtet ist. Franziskus erfährt dies in den christlichen Glaubensinhalten der Menschwerdung Gottes (Gott steigt herab und wird Mensch in Jesus von Nazareth) sowie im Tod Jesu am Kreuz (der menschgewordene Gott gibt in Liebe und Ohnmacht sein Leben hin). Diese christlichen Glaubensinhalte werden für Franziskus hier auf Erden nirgendwo so sichtbar wie in der Feier der Eucharistie. Vor der schlichten Gestalt des Brotes auf dem Altar fällt Franziskus in das Gebet: „O erhabene Demut! O demütige Erhabenheit, dass Gott sich zu unserem Heil unter der anspruchslosen Gestalt des Brotes verbirgt! Seht, Brüder und Schwestern, die Demut Gottes! Behaltet darum nichts von euch für euch zurück, damit euch als Ganze aufnehme, der sich euch ganz hingibt.“ Mit diesen Worten bringt es der Heilige auf den Punkt: Die Quelle aller menschlichen Demut liegt in Größe und Erhabenheit, aber auch in der Liebe und Demut des Schöpfers selbst. Das ist die eigentliche Quelle der franziskanischen Demut. Mit Demut an Größe gewinnen Wir entdecken hier etwas Wichtiges: Demut besteht nicht darin, sich geringer als die anderen zu fühlen, sondern sich von der Anmaßung der eigenen Wichtigkeit zu befreien. Christliche Demut ist frei von jeglichem Minderwertigkeitskomplex, aber auch von jeglichem Größenwahn. Vielmehr gilt: Wer Demut beweist, der gewinnt an Größe. Die biblische Quelle für dieses Verständnis findet sich im Hymnus des Philipperbriefes im Neuen Testament: „Jesus war wie Gott, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde den Menschen gleich.“ Im Jahr 1999 wurde der heilige Franziskus vom New York Times Magazine zum „Mann des Jahrtausends“ gekürt. Würden wir alle ein bisschen mehr wie er, wäre die Menschheit einen Schritt weiter. TEXT: BR. CHRISTOPHORUS GOEDEREIS 15 TITELTHEMA _WINTER 2023

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