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FOTO: Unsplash/Joe Eitzen

9. Sep­tem­ber 2024

„Mittelmaß ist nicht dein Beruf“

Die­ses Zitat aus dem Tage­buch von Vik­tri­zi­us Weiß irri­tiert. Bes­ser, stren­ger, hei­li­ger? Nicht die Mit­te als Maß? Ein Text von Br. Tho­mas Schied über die gesun­de Suche nach dem see­li­schen Gleichgewicht.

Wer Fer­di­nand von Schirachs Buch „Nach­mit­ta­ge“ gele­sen hat, wird sich viel­leicht an die Erzäh­lung „zwei­und­zwan­zig“ erin­nern. Schi­rach berich­tet dar­in von sei­ner Begeg­nung mit dem alten Stu­di­en­freund Peter Midd­le­ton. Die­ser lebt mitt­ler­wei­le in Oslo. Dort hat der erfolg­rei­che Che­mi­ker und Phi­lo­soph nach einer tief­grei­fen­den Erfah­rung im nord­ira­ki­schen Sind­schar sei­nen Frie­den gefun­den. Er erzählt davon, wie er in der zer­stör­ten Stadt aus dem Auto gestie­gen und plötz­lich von einer gro­ßen und durch­drin­gen­den Klar­heit über­wäl­tigt war: „Wir kön­nen nur in der Mit­te leben. Jedes Extrem ist falsch.“ Dann führt er Schi­rach zu einem klei­nen unbe­deu­ten­den Super­markt abseits der gro­ßen Ein­kaufs­stra­ße. Dort habe er nicht nur sei­nen Frie­den, son­dern auch sei­ne Mit­te gefun­den. Es stellt sich her­aus, dass er der Besit­zer die­ses klei­nen Ladens ist. Auf den erstaun­ten Ein­wand Schirachs, es hand­le sich hier doch nur um einen Super­markt, erwi­dert Midd­le­ton: „Nein mein Freund, das ist die Mitte.“

Eine Gesellschaft im Selbstoptimierungswahn

Viel­leicht berührt die Erzäh­lung in Schirachs Buch „Nach­mit­ta­ge“ des­halb so sehr, weil es die­se Sehn­sucht nach einer Mit­te, nach einem Ort der Ruhe und der Zufrie­den­heit, in uns allen gibt. Gleich­zei­tig pro­vo­ziert die Geschich­te in einer Zeit und in einer Gesellschaft­, die fast zwangha­ft auf Selbst­op­ti­mie­rung und stän­di­ge Ver­bes­se­rung des Ein­zel­nen aus­ge­rich­tet ist. Wer ist nicht davon beein­flusst? Und wer ertappt sich nicht selbst dabei, bes­ser, erfolg­rei­cher, schö­ner, begehr­ter, rei­cher, oder was auch immer wer­den zu wollen?

Im Gespräch mit Men­schen, die sich für Medi­ta­ti­ons­an­ge­bo­te und spi­ri­tu­el­le Ein­kehr­zei­ten inter­es­sie­ren, fällt auf, dass es auch hier zuneh­mend um The­men der Selbst­ver­bes­se­rung im beruf­li­chen und pri­va­ten Bereich geht. Frei­lich sind das The­men, die der christ­li­chen Aske­se nicht fremd sind. Geht es doch von alters her bei vie­len aske­ti­schen Übun­gen eben­falls um die Ver­bes­se­rung der eige­nen Lebens­ge­stal­tung – oft­ genug im Blick auf eine reli­giö­se Pra­xis oder die mora­li­sche Integrität.

„Du musst nach Heiligkeit trachten“

Im Tage­buch des bay­ri­schen Kapu­zi­ners Vik­tri­zi­us Weiß sto­ßen wir auf einen Satz, der auf­hor­chen lässt. Er schreibt, wohl mit dem Anlie­gen, sich selbst zu moti­vie­ren: „Du musst nach Hei­lig­keit trach­ten. Mit­tel­mä­ßig­keit ist nicht dein Beruf!“ Die­ses Wort scheint eine Hal­tung aus­zu­drü­cken. Viel­leicht war es sogar so etwas wie ein Lebens­mot­to. Das wür­de jeden­falls erklä­ren, war­um sich der jun­ge und ange­se­he­ne Welt­geist­li­che auf den Weg in den fran­zis­ka­ni­schen Reform­or­den der Kapu­zi­ner macht. Die Kapu­zi­ner bemüh­ten sich zu die­ser Zeit immer noch sehr stark um die Abgren­zung von den Fran­zis­ka­nern durch eine stren­ge­re Regel­aus­le­gung und raue­re Gebräu­che im Ordens­all­tag. Mit­tel­mä­ßig­keit war in ihrem Den­ken eine Ver­falls­er­schei­nung und der Beginn der Ver­weich­li­chung des Ordensstandes.

Auch heu­te noch klingt „Mit­tel­mä­ßig­keit“ in den Ohren der meis­ten Men­schen eher unat­trak­tiv. Wer will schon mit­tel­mä­ßig sein? Wer mit­tel­mä­ßig daher kommt, der bleibt unsicht­bar, wird nicht wahr­ge­nom­men, geht unter in der Mas­se. Mit­tel­mä­ßig­keit und Erfolg schei­nen sich auszuschließen.

Anders aus­ge­drückt: Wer erfolg­reich sein will, der muss sicht­bar wer­den und Auf­merk­sam­keit erre­gen. Der muss von sich reden machen mit allen Kon­se­quen­zen. Und er muss letzt­lich bes­ser sein als sei­ne Mitbewerber.

Mitte, Maß und Mittelmaß

„Ich habe mei­ne Mit­te ver­lo­ren“ sagen Men­schen manch­mal, wenn sie spü­ren, dass sie inner­lich aus dem Gleich­ge­wicht gera­ten sind. Grün­de dafür gibt es vie­le. O­ft spielt dabei der hohe Erfolgs­druck in Schu­le, Beruf, Partnerscha­ft und Fami­lie eine Rolle.

Dage­gen tut es Men­schen gut, wenn sie in einer Lebens­pha­se von sich selbst sagen kön­nen: „Ich habe mei­ne Mit­te gefun­den. Ich bin bei mir ange­kom­men. Ich bin zufrie­den.“ Der Mensch hat eine Sehn­sucht nach „sei­ner Mit­te“, also nach dem Zustand, den man als inne­re Balan­ce und als see­li­sches Gleich­ge­wicht bezeich­nen kann.

Bleibt die Fra­ge, wie der Mensch dahin gelangt? Eine Fra­ge, die die Mensch­heit schon lan­ge beschäft­igt. Als Begriff taucht „die Mit­te“ schon in der anti­ken Phi­lo­so­phie auf. Für Aris­to­te­les bezeich­net sie die Stel­lung einer Tugend zwi­schen zwei ein­an­der ent­ge­gen­ge­setz­ten Las­tern, dem „Über­maß“ und dem „Man­gel“.

Man muss nur für eini­ge Minu­ten durch die Eso­te­rik­ab­tei­lung einer belie­bi­gen Buch­hand­lung schlen­dern, um fest­zu­stel­len, wie vie­le „Heils­an­ge­bo­te“ es auf dem Markt gibt, die auf die­se Fra­ge nach dem Weg zur inne­ren Balan­ce eine Ant­wort geben wol­len. Wie fin­de ich mei­ne Mit­te? Wann kom­me ich bei mir an? Was kann ich tun oder las­sen für das inne­re Glück?

Fragen offen lassen

Gesun­de Tra­di­tio­nen und Spi­ri­tua­li­tä­ten zeich­nen sich dadurch aus, dass sie die­se Fra­gen erst ein­mal offen las­sen. Eine Ant­wort dar­auf kann nicht gege­ben, son­dern höchs­tens vom Suchen­den selbst erfah­ren und gefun­den wer­den. Vik­tri­zi­us Weiß hat sei­nen Weg im Bemü­hen um Hei­lig­keit als baye­ri­scher Kapu­zi­ner gefun­den. Peter Midd­le­ton hat im Berufs­all­tag von Oslo eine „Erfah­rung der Mit­te“ gemacht. Bei­de waren auf ihre Art wohl so etwas wie Mystiker.

Nur wenn wir uns mit der offe­nen Fra­ge nach dem Sinn und der Mit­te des Lebens auf den Weg machen, kön­nen wir etwas Neu­es ent­de­cken. Viel­leicht sogar eine Ant­wort auf unse­re Lebens­fra­ge. Und wenn dann jemand ein­wen­det „es ist ein Klos­ter“ oder „es ist der Super­markt“, dann wer­den wir viel­leicht sagen: „Nein, mein Freund, das ist die Mitte.“

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